1. Entfremdung – der Ausgangspunkt des Religionsverstọndnisses Fang Dongmeis
1.1. Fang Dongmeis Analyse der Ursache der Entfremdung
421 Zhang Zhendong 张振东: „Fang Dongmei de chaoyue guan ji fanshen sixiang“ 方东美的超越观及泛神思想 [Fang Dongmeis Transzendenzauffassung und panentheistische Gedanke ] in: Executive Committee of the Inter- national Symposium on Thomé H. Fang’s Philosophy (Hrsg.): Fang Dongmei xiansheng de zhexue 方东美先生 的哲学 [Die Philosophie des Herrn Fang Dongmei], Taipeh: Youshi wenhua shiye gongsi 幼狮文化事业公司, 1989, S. 209.
422 Ritz, Eberhard: „Entfremdung“, in: Ritter, Joachim / Karlfried Gründer / Gottfried Gabriel (Hrsg.): Histori- sches Wửrterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel, 1972, S. 509.
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Ein Vortrag, den Fang Dongmei im Jahre 1969 wọhrend einer Konferenz hielt, behandelt un- mittelbar die Thematik der Entfremdung. Dieser Vortrag mit dem Titel „Die Entfremdung des Menschen in Philosophie, Religion und philosophischer Anthropologie“ wurde in seinem Sammelband aufgenommen. Er analysiert dabei die Ursachen der Entfremdung und stellt fest:
„Entfremdung kann durch eine Verhaltensstửrung, intellektuelles Missverstọndnis, emotionale Perversion, Werteblindheit, frustrierte Wỹnsche, einen stửrenden Geist oder eine schizophre- ne Persửnlichkeitsspaltung verursacht werden.“423 Aus den zahlreichen Ursachen der Ent- fremdung hebt Fang Dongmei besonders drei hervor und bezeichnet sie als die bedauernswer- testen Ursachen der Entfremdung.424
(1). Als erstes nennt er die religiửse Ursache. Gott, der eigentlich die Urquelle der opu- lenten Liebe ist, werde in den „Schuld-Kulturen“ als das transzendentale Objekt der Furcht und des Zitterns verkannt; das allumfassende gửttliche Wesen werde viel zu oft für praktische Zwecke in der irdischen Welt heraufbeschworen. In den Schriften einiger Theologen seien religiửse Vorurteile deshalb weit verbreitet, da sie an Philosophie, vor allem vergleichender Philosophie mangeln. Eine Menge sozialer und politischer Untaten sei im Namen des Gửttlichen durchgefỹhrt wor- den und habe Abscheu und Hass unter den Verletzten entfacht. Aus diesen Grün- den entfremdeten sich die Menschen von Gott, indem sie die Essenz des Gửttli- chen aus der Natur des Menschen und der Welt abzogen. Somit sei Gott in die Verbannung geschickt, wenn nicht gar zu Tode gebracht worden.
(2). Als zweites beleuchtet er den philosophischen Bereich. Die methodologische Fi- xierung auf die formale logische Ebene entfremde Menschen von verschiedenen Welt-Systemen sowie von vielfọltigen Arten von Menschen. Um dieses zu ver- deutlichen, beruft sich Fang Dongmei auf den Philosophen Wilhelm Windelband, der behauptet, der Fehler der Einseitigkeit fange dann an, wenn das, was an einem bestimmten Ort gerechtfertigt ist, als die allein gültige und absolute Wahrheit aus- gegeben wird.“425 Auch aus philosophiegeschichtlicher Sicht glaubt Fang Dong- mei eine vergleichbare Situation gefunden zu haben. Die antiken Griechen und Rửmer sowie die Menschen des Mittelalters haben nicht selten im Namen des Numinosen eine spiritualistische Sprache zu entwickeln versucht und in ihrem
423 Vgl. Fang Dongmei: „The Alienation of Man in Religion, Philosophy and Philosophical Anthropology“, in:
ders.: Creativity in Man and Nature, 1980b, S. 66.
424 Vgl. ebd., S. 98.
425 Windelband, Wilhelm: Theories in Logic, New York: Citadel Press, 1961, S. 2, 51.
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Angriff gegen das Heidentum die physische Natur als lebloses Instrument des re- ligiửsen Willens gebrandmarkt und damit die fleischliche Eigenschaft des Men- schen als bửse verdammt. Als Folge sei die ideelle Kultur durch das dominierend sinnliche System der modernen euro-amerikanischen Kultur ersetzt geworden, die von Pitirim A. Sorokin (1889–1968) zu Recht als „die Krise unserer Zeit“ diag- nostiziert geworden sei.426
(3). Als drittes hebt Fang Dongmei den anthropologischen Bereich hervor. Das Kon- zept der Menschen mỹsse in seinen vielfọltigen Bedeutungen verstanden werden.
Vom Aspekt der gửttlichen Herkunft her oder aus der Sicht des „Punktes Ome- ga“ im Sinne von Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955)427, in dem sich Schửp- fung und Evolution auf dem Gipfelpunkt treffen, ist der Mensch für Fang Dong- mei die Inkarnation des gửttlichen Geistes und Teilnehmer an der kosmischen kreativen Energie. Als solcher sei der Mensch das hervorragendste und würdigste Wesen und erfahre er die unbegrenzte Liebe und Seligkeit, bleibe er vollkommen.
Durch Selbstabwertung und Selbstverachtung jedoch kửnne der Mensch zerrissen und die ursprỹngliche ganzheitliche Personalitọt zerstửrt werden. Der Mensch zer- streite sich dann mit seiner eigenen Natur.
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die Entfremdung des Menschen für Fang Dongmei eine von modernen westlichen Geistesstrửmungen verursachte Schwierigkeit ist. Er stimmt mit Max Scheler und Martin Buber darin überein, dass die moderne westliche Wissenschaft nur die problematische Seite des Menschen erfasst, die Frage nach seinem We- sen jedoch überspringt. Der Grund dafür ist, dass die klassische Wissenschaft und die gegen- wọrtige Philosophie das Gewicht des „abgeschlossenen Systems“ als Gedankenmodell ỹber- betonen. Darum glaubt Fang Dongmei, dass das Problem der Entfremdung letzten Endes der ửstlichen Welt oktroyiert wird. Der Groòteil der Morgenlọnder habe die organische Einstel- lung zu den Studienobjekten gewọhlt, um ein umfassendes Verstọndnis von Gott, Menschen und Welt zu gewinnen.428 Er ist der Ansicht, dass die organische Weltanschauung des alten Chinas keinen Schuldkomplex kennt, der Menschen von Gott und von der Welt trennt. Diese
426 Vgl. Sorokin, Pitirim A.: The Crisis of Our Age, New York, 1941, S. 18-21, 30-33, 39-79. Zitiert nach Fang Dongmei: „The Alienation of Man in Religion, Philosophy and Philosophical Anthropology“, in: ders.: Creativi- ty in Man and Nature, 1980b, S. 100.
427 Der Punkt Omega bedeutet bei Teilhard de Chardin Ziel, Richtung und Kraftquelle der Evolution, vgl. Teil- hard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos, aus dem Franzửsischen ỹbertragen von Othon Marbach, Mỹn- chen: Verlag C.H. Beck, 1959, 250-267.
428 Vgl. Fang Dongmei: „The Alienation of Man in Religion, Philosophy and Philosophical Anthropology“, in:
ders.: Creativity in Man and Nature, 1980b, S. 65-66.
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alte Weisheit in der chinesischen „Unschuld-Kultur“ sollte bei der Wiederherstellung des Menschen zum ursprünglichen Abbild Gottes von Nutzen sein.429
Ab den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts begann Fang Dongmei intensiv ỹber die gửttliche Natur des Menschen nachzudenken und sich ỹber die Mửglichkeit und Notwendigkeit, die Persửnlichkeit zu erhửhen, Gedanken zu machen. Er ist davon ỹberzeugt, dass, vom gửttlichen Ursprung des Menschen aus betrachtet, dieser die Verkửrperung des gửttlichen Geistes und das wertvollstes Wesen sei. Die Natur des Menschen sei ehrenhaft, auch seine Gestalt sei nicht abscheulich und dürfe nicht abgelehnt werden. Da alles in der Welt denselben Ursprung hat, solle auch alles zusammenhọngend und einheitlich sein. So solle auch der Mensch in einer Einheit mit dem Universum stehen. In einer solchen Weltan- schauung finde die Entfremdung keinen Platz.430