5. Fang Dongmeis Auffassung von der chinesischen Religiositọt
5.1. Die chinesische archaische Religion
5.1.3. Die Fünf-Elemente-Lehre
Der chinesische Ausdruck Wuxing 五行 wird họufig mit „fỹnf Elemente“ wiedergegeben, aber auch mit „fỹnf Agenten“ oder „fỹnf Wirkqualitọten“ bzw. „fỹnf Wandlungsphasen“572.
572 Vgl. Malek, Roman: Das Tao des Himmels, 1996, S. 39.
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Das rührt daher, da xing gehen, sich bewegen, handeln bedeutet.573 Wuxing war Fang Dong- mei zufolge ursprünglich eine weitverbreitete, einfache Denkweise der Xia- (夏朝 ca. 21.Jh.
bis ca. 16.Jh. v. Chr) und Shang-Dynastie (商朝ca. 16.Jh. bis ca. 1045 v. Chr.) und bezog sich nur auf die „fỹnf Stoffe“ oder die alltọglichen Hilfsmittel des menschlichen Lebens. Die Mischung dieser Stoffe wurde Gegenstọnden fỹr den Alltagsgebrauch und ihrem Gebrauchs- wert beigemessen. So beinhalten die fỹnf Elemente zunọchst keine philosophische Implikati- on.574
Ein Kurswechsel der Bedeutung hat sich erst spọter allmọhlich vollgezogen, so dass die ursprünglichen fünf natürlichen Elemente viele weitere Sinngebungen bekamen. Diesen Prozess bezeichnet Fang Dongmei sowohl als „Keim der naturwissenschaftlichen Gedan- ken“ als auch als „religiửse Tradition der Naturreligion“575. Die Bezeichnung „Keim der na- turwissenschaftlichen Gedanken“ wọhlt er, weil die fỹnf alltọglichen Hilfsmittel des mensch- lichen Lebens als fünf Grundelemente betrachtet wurden, die das materielle Universum bilden, und dadurch ein anfọngliches kosmologisches Denken entstand, das der Naturphilosophie der Vorsokratiker recht nahe steht.576 Dieser naturwissenschaftliche Wechsel fand allerdings Fang Dongmei zufolge viel spọter wọhrend der Frỹhling- und Herbst-Periode (春秋时期 770–481 v.
Chr.) statt. In dem Jahrtausend vor der Zhou-Dynastie (21. Jh.–11. Jh. v. Chr.) wurde „die Fỹnf-Elemente-Lehre“ ỹberwiegend als eine „religiửse Tradition der Naturreligion“ beibehal- ten und überliefert.
Diese ĩberlieferung zeigt sich in der graduellen Bedeutungsverọnderung der „Fỹnf- Elemente“: aus „fỹnf Stoffe“ wurde „fỹnf Ämter“, aus „fỹnf Ämter“ wurde „funktionelle Gửt- ter“. Dazu erklọrt Fang Dongmei:
„Die Regierungsarbeit in der chinesischen archaischen Gesellschaft wurde unter fünf verschiedenen Ämtern aufgeteilt, die jeweils für Versorgung und Verwal- tung von Holz, Brennmaterial, Mineralstoffe, Wasser und Tonware verantwort- lich waren. Die obersten Leiter dieser Ämter waren reale Personen mit konkre- ten Namen. Sie waren beispielsweise die unmittelbaren Verwandten von Kửnig Shao Hao 少昊 (ca. 2574–2489 v. Chr.) oder die Sửhne von Kửnig Zhuan Xu 颛 顼 (ca. 2490–2412 v. Chr.) in den Tagen, als die Zivilisation gerade beim chine-
573 Vgl. Granet, Marcel: Das Chinesische Denken. Inhalt – Form - Charakter, übersetzt von Manfred Porkert, Berlin: Suhrkamp Verlag, 1985, S. 137.
574 Vgl. Fang Dongmei: Zhongguo zhexue zhi jingshen ji qi fazhan (shang), 2005l, S. 139.
575 Vgl. Fang Dongmei: Yuanshi rujia daojia zhexue, 2005e, S. 95.
576 Vgl. ebd., S. 131.
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sischen Volk anbrach. Nach brillant erfolgreichem Lebenslauf im Dienst wurden sie vom Volk in Erinnerung behalten und verehrt, so dass sie zu funktionellen Gửttern der Natur unter Bezugnahme auf Wasser, Holz, Feuer, Metall und Erde deifizierten. Dementsprechend wurden die fünf Ämter für die natürlichen Mate- rialien in Form menschlicher Hilfsmittel in die fünf Arten von Naturverehrung umgewandelt.“577
Aus diesem Text wird deutlich, dass sich das uranfọngliche Denken der urzeitlichen Chinesen ebenfalls der Mythologie bedient hat und eine mystische mythologische Deutung dem natürlichen Leben beigefügt wurde; also kannten die urzeitlichen Chinesen offensichtli- chen eine Art von Naturreligion oder Animismus.578 Animismus als ọlteste Ausdrucksform religiửsen Bewusstseins bezieht seine Glaubensobjekte ausschlieòlich aus der Umwelt des menschlichen Lebens. Hinter den Erscheinungsformen der Natur, hinter jedem Gestirn, hinter den Bergen, Gewọssern, Steinen, Tieren und Pflanzen wurden geheimnisvolle Mọchte vermu- tet, so dass diese allmọhlich Objekte der Verehrung wurden und Religiositọt entstand.579
Die Fünf-Elemente-Lehre wurde Fang Dongmei zufolge als grundlegendes Denk- schema beibehalten und überliefert und so tief in die chinesische Gesinnung eingepflanzt.
Obwohl die ursprünglichen Konfuzianer und Taoisten der Frühling- und Herbst-Periode so- wie die der Streitende Reiche-Periode diese Lehre zu verdrọngen und vollstọndig zu unterdrỹ- cken und die Mohisten sie wegzuinterpretieren versuchten, wurde ihr Einfluss nicht ge- schwọcht. Wọhrend der Streitenden Reiche-Periode (475–221 v. Chr.) verschmolz die Fỹnf- Elemente-Lehre mit der Philosophie der Yin-Yang-Schule, nahm eine proto- und pseudowis- senschaftliche Rolle ein und trat heimlich in die Naturphilosophie, die Kalenderberechnung, die Rechnung rhythmischer Bewegungen von Himmelskửrpern, die musikalische Kompositi- on kontrapunktischer Melodien, das Geschichtskonzept, die Theoriebildung in der Politik sowie das Praktizieren heilkundlicher Diagnostik ein. In der Spọtphase der Qin-Dynastie (秦 朝 221–207 v. Chr.) und wọhrend der gesamten Han-Dynastie (汉朝 206 v. Chr.–220 n. Chr.) floss dann die Fünf-Elemente-Lehre in das umfangreiche Wissensgebiet der akademischen Gelehrsamkeit ein und hielt praktisch alles Theoretische unter ihrem Einfluss.580
Bei der Schilderung der weiteren Entwicklung der Fünf-Elemente-Lehre stellt Fang Dongmei fest, dass die Systematisierung dieser Theorie von Lü Buwei 吕不韦 (ca. 300–236 v.
577 Fang Dongmei: Zhongguo zhexue zhi jingshen ji qi fazhan (shang), 2005l, S. 139-140.
578 Vgl. Fang Dongmei: Yuanshi rujia daojia zhexue, 2005e, S. 131.
579 Vgl. Fang Dongmei: Huayanyong zhexue (xia), 2005i, S. 286.
580 Vgl. Fang Dongmei: Zhongguo zhexue zhi jingshen ji qi fazhan (shang), 2005l, S. 141.
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Chr.) eingeleitet, von Liu An 刘安 (179–122 v. Chr.) und Liu Xin 刘歆 (50 v. Chr.–23 n. Chr.) fortgeführt und von Dong Zhongshu 董仲舒 (179–104 v. Chr.) und Ban Gu 班固 (32–92) zum Hửhepunkt gefỹhrt wurde. Es war dann Dong Zhongshu, der die fỹnf sporadischen natỹr- lichen Elemente in eine Koordination brachte, die durch das Prinzip der „Erzeugung von ei- nem direkt angrenzenden Element und ĩberwindung von indirekt angrenzendem Element“581 geregelt wurde. Dieses war laut Fang Dongmei wiederum eine Anwendung der Theorie über die stọndige Angleichung von Yin und Yang, aufgeladen mit moralischen und rechtlichen Bedeutungen. So heiòt „Erzeugung“ Wohlwollen zeigen, „ĩberwindung“ jedoch bedeutet Sanktionen verhọngen. Die erzeugenden und ỹberwindenden Verhọltnisse zwischen den fỹnf Elementen sollten sowohl für Naturerscheinungen als auch für das menschliche Leben gel- ten.582
Auf dieser theoretischen Grundlage ging dann Ban Gu einen Schritt weiter. Er über- nahm nicht die wửrtliche Bedeutung dieser Begriffe, sondern suchte nach der sinnbildli- chen.583 Fỹr ihn stand Holz fỹr das Wachstum und die ĩppigkeit des Lebens in der blỹhenden und frửhlichen Jahreszeit des Frỹhlings. Feuer kennzeichnete fỹr ihn den natỹrlichen Um- wandlungsprozess, bei dem alle Geschửpfe durch Empfang und Verbrauch unerschửpflicher Energie mit Schritten rhythmischer Vitalitọt tanzen, wie es der leidenschaftliche Sommer ver- anlasst. Metall markiert nach Ban Gus Ansicht das Kommen des Herbstes, der Jahreszeit des Erntens, in der viele Formen des Lebens, vornehmlich die Pflanzenwelt, Früchte tragen. Im Winter schlieòlich stehe alles unter dem Einfluss von Yin, das alles mit Wasser ernọhrt, so dass die Lebenskraft in naher Zukunft wieder hervorquillt; es sei die metaphysische Bedeu- tung des Wassers. Was die Erde angeht, so ist sie nichts Geringeres als die Mutter-Natur, die von der Wirkungskraft des Yangs gestọrkt wird und somit alle Lebensmửglichkeiten um- schlieòt. Zusammen mit anderen Elementen bringt sie neues Leben hervor. Folglich werden die fünf natürlichen Elemente nach Ban Gu von dem Auftrag erfüllt, Leben hervorzubringen und zu entwickeln. 584
581 Dong Zhongshu: Chunqiu fanlu, juan 13. Su Yu: Chunqiu fanlu yi zheng, 1992, S. 362. Das Prinzip lautet „Bi xiang sheng er jian xiang sheng“ 比相生而间相胜 und bedeutet, das unter den fünf Elementen – Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser – produktive und destruktive Wirkungsweisen bestehen. Produktives Verhọltnis zwi- schen den angrenzenden Elementen bedeutet: Holz bringt Feuer hervor, Feuer Erde, usw. Destruktives Verhọlt- nis zwischen den indirekt angrenzenden Elementen bedeutet: Wasser lửscht das Feuer aus, das Feuer schmilzt Metall, Metall schneidet Holz, das (wachsende) Holz durchbohrt die Erde und die Erde verschüttet das Wasser.
Vgl. Forke, Alfred: Die Gedankenwelt des chinesischen Kulturkreises, München / Berlin: Verlag von Olden- bourg, 1927, S. 49-50.
582 Vgl. Fang Dongmei: Zhongguo zhexue zhi jingshen ji qi fazhan (shang), 2005l, S. 141.
583 Vgl. Ban Gu, Bai Hu Tong, juan 3, 1985, S. 68.
584 Vgl. Fang Dongmei: Chinese Philosophy: Its Spirit and its Development, 1981, S. 51-52.
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Soweit Fang Dongmeis detaillierte Erlọuterung zur Fỹnf-Elemente-Lehre, mit der er bekrọftigen will, dass diese Lehre, die ihre Wurzeln in der Urgeschichte hat, mit der Zeit zu einer Theorie über die Belebtheit der Natur herangereift ist und sich von der mystischen reli- giửsen Implikation gelửst hat. Er sieht diese Lehre deshalb als „Relikt der chinesischen mysti- schen Religion“585.