5. Fang Dongmeis Auffassung von der chinesischen Religiositọt
5.2. Der chinesische Mahayana-Buddhismus
5.2.3.1. Das bedingte Entstehen der Dharma-dhātu
Die Lehre vom bedingten Entstehen der Dharma-dhātu ist der Wesensgehalt des „Avatamsa- ka-Sutra“. Es geht hier um die Frage nach der Entstehung des Universums. Es gibt laut Fang Dongmei im Bereich des Buddhismus – indische und chinesische Traditionen zusammenge- nommen – insgesamt fünf verschiedene Theorien, die eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Kosmos geben wollen.625 Er durchforscht alle fünf und stellt vorzugsweise die Theorie der Huayan-Schule dar.
Gemeinsam ist allen Theorien über die Entstehung des Universums in der buddhisti- schen Philosophie die Lehre vom „bedingten Entstehen“ (Sanskrit: pratityasamutpada, Chin.
Yuanqi 缘起). Diese Lehre fuòt auf der konditionalen Abhọngigkeit voneinander bei der Ent- stehung aller Dinge und Erscheinungen der Welt.626 Anders ausgedrückt kann man sagen, dass das Entstehen jeglicher Erscheinung und aller Dinge der Welt verhọltnismọòig ist und nur unter bestimmten Bedingungen mửglich ist. Ohne diesen Bedingungen und Verhọltnisse kửnnen keine Dingen und Erscheinungen entstehen. Der Kosmos als Ganzes ist als selbstver- ursacht zu verstehen; es gibt in ihm kein Zentrum und keine Rangordnung.627
In der Huayan-Schule geht man einen Schritt weiter und spricht vom „bedingten Ent- stehen von Dharma-dhātu“. Das Dharma-dhātu (Fajie 法界) bedeutet wửrtlich „die Welt von Dharma“. Dharma ist ein sehr vielsagender Begriff mit einer Anzahl verschiedener Bedeu- tungen wie „Wirklichkeit als Objekt der Sinne“, „Idee“, „Prinzip“ u.a. Dhātu bedeutet eigent- lich „Elemente“ oder „Substanz“, kann in diesem Zusammenhang als „Welt“ interpretiert werden. Dharma-dhātu wird aus Sicht der Huayan-Schule als eine Welt definiert, „die sich selbst dem erleuchteten Geist offenbart“628, und mit einem alles umfassenden Absoluten ver- glichen. Es existiert gleichzeitig in zwei Formen, nọmlich Shi 事 und Li 理.
623 Vgl. Fang Dongmei: Chinese Philosophy: Its Spirit and its Development, 1981, S. 303-304.
624 Vgl. Fang Dongmei: Huayanzong zhexue (shang), 2005h, S. 94.
625 Vgl. Fang Dongmei: Chinese Philosophy: Its Spirit and its Development, 1981, S. 304.
626 Vgl. Fang Dongmei: Huayanzong zhexue (shang), 2005h, 166, S. 403.
627 Vgl. Lai, Pan-Chiu, „Trinitarische Perichorese und Hua-yen Buddhismus“, in: Mühling, Markus / Martin Wendte (Hrsg.): Entzogenheit in Gott. Beitrọge zur Rede von der Verborgenheit der Trinitọt, Utrecht: Ars Dis- putandi, 2005, S. 54.
628 Suzuki, Daisetz Teitaro: Wesen und Sinn des Buddhismus, 1993, S. 96.
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Shi 事 und Li 理 sind zwei Schlüsselbegriffe der Huayan Philosophie. Shi bedeutet gewửhnlich „ein Ereignis“ oder „ein Geschehen“, aber in der buddhistischen Philosophie steht es für „das Individuelle“, „das Besondere“, „das Konkrete“ und „die Monade“. Li bedeutet u.a.
„ein Prinzip“, „das Ganze“, „das All“, „Totalitọt“, „das Universale“, „das Abstrakte“. Beide Begriffe stehen immer im Kontrast zueinander. In der buddhistischen Terminologie entspricht Li der Leerheit (Kong 空) und Shi der Form (Se 色).629 Diese zwei Kategorien der Huayan- Schule knüpfen Fang Dongmei zufolge an die beiden wichtigen Auffassungen des Buddhis- mus – Leerheit und Bestehen – an; somit wird eine Brücke zwischen der ideellen Welt und der realen geschlagen. Jeder Teil des Universums steht also in Verbindung mit allen anderen Teilen des Universums und die Welt erhọlt somit eine ganzheitliche Struktur.630
Nach der Philosophie der Huayan-Schule sind Li als absoluter Ursprung und Shi als phọnomenale Existenz vollstọndig identisch. Der Ursprung kann ohne die funktionalen Phọ- nomene nicht existieren, denn die Phọnomene sind die Form der Manifestation des Ursprungs in der Welt. Das Dharma-dhātu kann also als ein Universum der Ganzheit betrachtet werden.
Alle Erscheinungen darin sind gegenseitig voneinander abhọngig und stehen in einem Kausal- zusammenhang. Ein Effekt auf einen Teil des Kosmos hat Auswirkungen auf alle anderen Erscheinungen und Dinge. Zwischen dem Ganzen und den Teilen besteht ebenfalls eine ab- họngige Beziehung, und das Ganze kann nicht ohne die Teile existieren. Das ganze Univer- sum zeigt sich als perfekte Harmonie und geschlossen. Alle Teile sind verbunden und bedin- gen einander in unendlicher wechselseitiger Abhọngigkeit. Nach dieser Auffassung trọgt je- des einzelne Teil immer das ganze Universum in sich, und alle einzelnen Teile des Univer- sums wiederum haben untereinander eine direkte abhọngige Beziehung. Diese Lehre drỹckt die Huayan-Schule in den Formeln „Eins in Allem und Alles in Einem“ (Yi ji yiqie, yiqie ji yi 一即一切,一切即一) sowie „wechselseitiger Identitọt und Durchdringung“ (Xiang ji xiang ru 相即相入) aus.631
Li bedeutet – wie erwọhnt – auch Leerheit. Das innvolviert aber nicht Abwesenheit von etwas, das vorher bestand und jetzt nicht mehr da ist. Leerheit ist nichts, das neben etwas anderem existiert. Als solche ist Li immer mit Shi als einzelnes Objekt verbunden, und exis- tiert gemeinsam mit der Form. Wo es keine Form gibt, gibt es also auch keine Leerheit. Das
629 Vgl. Suzuki, Daisetz Teitaro: Wesen und Sinn des Buddhismus, 1993, S. 78-79.
630 Vgl. Fang Dongmei: Huayanyong zhexue (xia), 2005i, S. 92.
631 Vgl. ebd., S. 76-82.
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Universum kann somit als eine groòe Bỹhne bezeichnet werden, auf der ein Schauspiel voller unendlich komplizierter Wechselwirkungen aller Krọfte aufgefỹhrt wird.632
Da diese Theorie mit der Sprache allein sehr schwer zu erklọren ist, verwenden die buddhistischen Schriften oft Metaphern. Die bekannteste und wichtigste zur Erklọrung der
„Lehre vom bedingten Entstehen der Dharma-dhātu“ ist in dem „Kapitel des Goldenen Lử- wen“ (Jin shizi zhang 金狮子章) zu finden. Dort geht es um einen goldenen Lửwen, der im Palast der Kaiserin der Tang-Dynastie Wu Zetian 武则天 (624–705), der der Mửnch Fazang 法藏 (643–712) diese Lehre zu erklọren versuchte, seinen Platz hatte:
„Da ist zunọchst das Wechselverhọltnis von Gold und Lửwengestalt. Das Gold entspricht dabei der Li-Form, also der ‚potentiellen‘ Form des Absoluten, wọh- rend die Lửwengestalt die Shi-Form, also die Aktualisierung, symbolisiert. In diesem Wechselverhọltnis sind Reales und „Leeres“ unlửsbar miteinander verei- nigt. Denn es existiert zwar das Gold real als Materie, aber seine momentane Lửwengestalt ist dafỹr alles andere als typisch und insofern ‚leer‘. Auf der ande- ren Seite zeichnet die Lửwengestalt tatsọchlich einen Lửwen nach, sie kann aber beim Betrachter bestenfalls die Illusion eines wirklichen Lửwen aus Fleisch und Blut hervorbringen, und insofern ist sie ebenfalls wieder ‚leer‘. Von dem Bild des goldenen Lửwen lọsst sich aber auch die Interdependenz aller seiner Ein- zelelemente ableiten. Denn jedes seiner Teile, etwa seine Ohren, seine Mọhne oder sein Schwanz erfordern ja auch alle seine anderen Teile, und zwar nicht nur bei einem Lửwen, sondern bei allen ob sie nun aus Fleisch und Blut sind oder aus Gold. Mit dem Auftauchen eines von ihnen sind auch alle anderen bereits vorgegeben.“633
Die Lehre vom bedingten Entstehen der Dharma-dhātu ist Fang Dongmei zufolge nicht eine zersplitterte und analytische, sondern eine synthetische und allesumfassende Vor- stellung. Sie erlọutert die ganze Welt nicht durch einen begrenzten Begriff oder eine enge Kategorie, sondern nimmt den ursprünglichen Anfang in ein „unendliches“ Denksystem auf, um von diesem aus die Welt und das Leben zu erklọren. Dieser Anfang ist genau der Aus- gangspunkt der Buddha-Natur oder des Dharmas.634
632 Vgl. Suzuki, Daisetz Teit: Wesen und Sinn des Buddhismus, 1993, S. 79-80.
633 Bauer, Wolfgang: Geschichte der chinesischen Philosophie, 2009, S. 217-218.
634 Vgl. Fang Dongmei: Huayanzong zhexue (shang), 2005h, S. 484-485.