Der gesamte Bereich des Praktischen und der Moral wird nach Thomas regiert von einem einzigen obersten Prinzip, nọmlich dem Satz, dass alles Streben das Streben nach einem Gut ist, bzw. in seiner Formulierung als Gesetzesvorschrift, „das Gute ist zu tun und handelnd zu erstreben, das Bửse ist zu meiden“429. Dieser Satz wird auch als oberstes Prinzip der praktischen Vernunft oder oberste Vorschrift des natürlichen Gesetzes bezeichnet.
427 STh I-II q. 91 a. 4: „Iudicium autem hominis esse non potest de interioribus motibus, qui latent, sed solum de exterioribus actibus, qui apparent. Et tamen ad perfectionem virtutis requiritur quod in utrisque actibus homo rectus existat.“
428 STh I-II q. 92 a. 1 ad 2, q. 92 a. 2 ad 4; q. 96 a. 3 ad 2.
429 STh I-II q. 94 a. 2: „...primum principium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni, quae est,
‚Bonum est quod omnia appetunt’. Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum.“
Diese Behauptung bereitet Interpretationsprobleme: Der Bereich menschlichen Handelns wird für Thomas von demselben Prinzip regiert wie der der Moral, also das natürliche Gesetz. Die Gleichsetzung des obersten praktischen Prinzips mit der hửchsten Vorschrift des natỹrlichen Gesetzes430 korreliert zwar mit der handlungstheoretischen Prọmisse, dass jede konkrete menschliche Handlung (d.h. von Wille und Vernunft getragen) als moralisch gut oder moralisch schlecht qualifizierbar ist. Die Gleichumfọnglichkeit von menschlicher Praxis überhaupt und Moral zeigt sich also auch hier: Die moralischen Normen des natürlichen Gesetzes sind auf den gesamten Bereich menschlichen Handelns bezogen, so dass das oberste praktische Prinzip zugleich die oberste Handlungsnorm des natürlichen Gesetzes darstellt. Wie aber kann das Prinzip des Praktischen zugleich eine Handlungsnorm sein?
Anders gefragt: Welchen Inhalt kann diese oberste Norm dann noch haben? Diesen Fragen soll sich in einem Zweischritt genọhert werden: Zuerst wird der Status des obersten praktischen Prinzips als per se notum geklọrt; hernach ist zu fragen, wodurch das natỹrliche Gesetz seine inhaltliche Bestimmung erfọhrt.
1. Der Status der obersten Vorschrift des natỹrlichen Gesetzes: Was heiòt per se notum?
Thomas führt das oberste praktische Prinzip in der vieldiskutierten Passage431 des Gesetzestraktats432 als per se notum, aus sich selbst heraus einleuchtend, ein433. Mit der Bezeichnung als per se notum, so fügt er sofort hinzu434, bezeichnet er einen Satz, dessen Prọdikat im Subjekt enthalten ist, so dass dem, der das Subjekt nicht kennt, der Satz auch nicht aus sich einleuchtend (per se notum) sein kann.435 Er erlọutert diese Aussage mit dem
430 Vgl. Rhonheimer 2003 S. 10.
431 Bezugspunkt vieler Debatten ist die Interpretation, die Grisez vorgelegt hat, siehe z.B. Grisez 1965.
432 STh I-II q. 94 a. 2.
433 Die Erklọrung des Thomas, was mit per se notum gemeint ist, fọllt im hiesigen Zusammenhang eher dỹrftig aus – entsprechend differieren auch die Deutungen, was mit dieser Kennzeichnung über das natürliche Gesetz ausgesagt wird, vgl. Flannery 2001, S. 26.
434 STh I-II q. 94 a. 2: „Secundum se quidem quaelibet propositio dicitur per se nota, cuius praedicatum est de ratione subiecti: contingit tamen quod ignoranti definitionem subiecti, talis propositio non erit per se nota.“;
vgl ọhnlich STh I q. 2 a. 1: „Ex hoc enim aliqua propositio est per se nota, quod praedicatum includitur in ratione subiecti, ut homo est animal: nam animal est de ratione hominis“ und STh I q. 17 a. 3 ad 2: „... principia per se nota sunt illa quae statim, intellectis terminis, cognoscuntur, ex eo quod praedicatum ponitur in definitione subiecti.“
435 Hierzu Carl 1997, S. 430, Fn 17: „I argue that whenever Aquinas employs the criterion of self-evidence to assert that a proposition is known through itself, true necessary, and certain – that is, that a proposition is a basic or first principle – he means that the predicate term of the proposition is contained in the notion or essence or nature or definition of the subject.“; Flannery 2001 weist hingegen darauf hin, dass die per se-
Beispiel, dass wer nicht wisse, was ein Mensch sei, auch nicht aus sich heraus einleuchtend finden kửnne, dass der Mensch vernỹnftig ist. Ein Satz leuchtet dann als selbstverstọndlich ein, wenn das Prọdikat zum Begriff des Subjektes gehửrt oder in der Definition des Subjektes enthalten ist.436
Dies wird teilweise so verstanden, dass den als per se notum qualifizierten Sọtzen diese Eigenschaft nicht aufgrund eines eingeborenen Wissens oder aufgrund einer apriorischen Begriffsanalyse zukomme, sondern vielmehr von vorhergehendem Erfahrungswissen abhọnge.437 Wenn also teilweise das per se notum als angeborenes im Gegensatz zu erworbenem Wissen charakterisiert werde, so kửnnten dem erkenntnistheoretische Grundsọtze des Aquinaten entgegengehalten werden, nach denen alles Wissen eine empirische Grundlage hat und der Intellekt nicht über angeborene Spezies verfügt. Das Wissen des obersten praktischen Prinzips – so die Vertreter dieser Ansicht - ist erworbenes Wissen und gleichzeitig per se notum.438
Nun spricht zwar Thomas davon, dass die obersten Prinzipien gleich einem habitus in der Vernunft anwesend sind439; und einen habitus des Wissens muss man sich als etwas Erworbenes vorstellen, das nọmlich, was die bloòe Fọhigkeit zum Wissenserwerb zu einem Wissen ausbaut, das in einem Akt des Gebrauchs angewendet werden kann oder auch nicht (so wie die Tugend der habitus praktischen Wissens, d.h. der Handlungsorientierung, ist.).
Diese ĩberlegung ist jedoch unvollstọndig. Thomas geht es in dem zitierten Text nur darum zu zeigen, dass das natürliche Gesetz selbst kein habitus ist, sondern lediglich gleich einem habitus im Menschen anwesend ist, denn es ist nicht das, wodurch die praktische Vernunft tọtig wird, sondern Resultat praktischer Vernunfttọtigkeit. Um diesen Unterschied
Kennzeichnung gar nicht so sehr auf Aussagen als sprachliche Gebilde bezogen ist, sondern dass es dabei um die Struktur von Wissen geht, also die Stellung einer Aussage innerhalb eines geordneten Systems von Aussagen, siehe besonders S. 39 Fn 43.
436 Vgl. hierzu und insgesamt zum Konzept des per se notum bei Thomas Tuninetti 1996, bes. S. 165 ff.; speziell zu STh I-II q. 94 a. 2 Flannery 2001, S. 25-49.
437 Hibbs 1987, S. 273 f.; ọhnlich Maier 2002 S. 298, 302, die jedoch sogleich weiter differenziert und neben der Erfahrungsgebundenheit auch betont, dass die fundamentalen Prinzipien eben nicht nur gewohnheitsfửrmig angeeignet seien.
438 Siehe Carl 1997, S. 432, Fn 23; ọhnlich Boler 1999, S. 164.
439 STh I-II q. 94 a. 1: „Et hoc modo, quia praecepta legis naturalis quandoque considerantur in actu a ratione, quandoque autem sunt in ea habitualiter tantum, secundum hunc modum potest dici quod lex naturalis sit habitus.“; in STh I-II q. 94 a. 1 ad 2 wird prọzisiert, dass der hier angesprochene habitus der praktischen Vernunft dem des theoretischen Verstandesvermửgens vergleichbar ist, da es hier um erste Prinzipien geht.
Schrửer 1995, S. 53 f. weist darauf hin, dass die praktische synderesis selbst jedoch nicht (nur) dem Verstand als solchem zugeschrieben wird, sondern für den gesamten Kompetenzbereich der Vernunft gilt.
herauszustellen, reichen seine Ausfỹhrungen aus. Was er jedoch nicht nọher ausfỹhrt, ist deshalb, dass es sich hier um eine besondere Art von Wissens-habitus handeln muss, denn zur Debatte stehen die obersten Grundsọtze der praktischen Vernunfttọtigkeit ỹberhaupt, das also, was jedem Wissens- bzw. Tugenderwerb noch zugrunde liegt. So wie beim Erwerb theoretischen Wissens440 kein Akt des wahrheitserfassenden Verstandes denkbar ist ohne erste allgemeinste Begriffe wie den Begriff des Seienden oder den Begriff des Einen, so ist auch im Bereich des Praktischen kein Akt der Vernunft mửglich ohne den Begriff des Guten.
Das der Erfahrung zugọngliche einzelne Strebensziel, die Einzelhandlung als prosequendum, ist nur als solche verstọndlich, wenn der Begriff des Guten und des Ziels als solcher bereits vorhanden ist. Diese Begriffe sind nicht erworben, sie kommen bei jeder Erfahrung im Bereich des Praktischen notwendigerweise zur Anwendung und ermửglichen dadurch jeden Erwerb praktischen Wissens. Sie sind von konstitutiver Bedeutung für jeden Akt praktischer Vernunfttọtigkeit, da sie ihren Gegenstandsbereich erửffnen. Das oberste praktische Prinzip verknüpft nun den Begriff des Guten mit dem des Ziels; das Gute ist als Gut zu Tuendes, ein prosequendum, ein Handlungsziel. Es kann daher mit den ersten komplexen Prinzipien des theoretischen Denkens wie dem Widerspruchsprinzip verglichen werden, dem also, was der urteilende Verstand als erstes erfasst. Ersterfasst heiòt hier: nicht erworben. Doch die Entdeckung der obersten Prinzipien ist darauf angewiesen, dass Erkenntnis bereits stattgefunden hat. Denken heiòt immer: etwas denken; das Denken ist immer schon auf einen Gegenstand des Denkens bezogen. Die ersten Prinzipien werden daher sichtbar in der Reflexion auf den Akt des Denkens, dessen Analyse aufdeckt, dass jeder Denkinhalt erste Inhalte voraussetzt, die den Akt des Denkens erst ermửglichen. Die von Verstand und Vernunft „mitgebrachten“ Begriffe und Prinzipien sind deshalb nicht unabhọngig von einzelnen, besonderen Denk- und Erkenntnisakten.441 Dasselbe gilt für die praktischen Prinzipien, auch sie sind nicht unabhọngig von konkreten Handlungen, sondern werden in der Reflexion auf sie aufgedeckt. Eine angeborene Spezies im Sinne eines angeborenen Wissens ist hier nicht gemeint, denn die Einsicht in das Prinzip folgt der Erfahrung praktischer Vernunfttọtigkeit nach; angeboren ist zwar die Vernunfttọtigkeit, die vom Prinzip regiert wird, nicht aber die Einsicht in das Prinzip. Die Unterscheidung angeboren versus
440 Fỹr eine ausfỹhrliche Herleitung des habitus der ersten Prinzipien vgl. Schrửer 1995, S. 46-54.
441 Maier 2002, S. 304 spricht von einem „’begleitenden’ Wissen um die schlechthinnigen Grundlagen sittlichen Tuns“.
erworben ist also im Zusammenhang mit dem obersten praktischen Prinzip eher irreführend.442
Das oberste praktische Prinzip ist nach dem Gesagten unbeweisbar443, seine Evidenz liegt jedem Beweis voraus und begrỹndet dessen Mửglichkeit. Seine „Entdeckung“, sein Aufweis ist jedoch nicht beliebig; sie resultiert aus der Analyse dessen, was in praktischer Hinsicht Kennzeichnen heiòt bzw. was als mửglicher Inhalt des Wollens von der praktischen Vernunft identifiziert werden kann. Es geht also um spezifisch menschliches Handeln, um Praxis. Auch die nicht als Imperativ formulierte Version des obersten praktischen Prinzips, „alles Handeln ist Handeln fỹr ein Gut“, ist also mehr als das bloòe Zitat eines allgemeinen metaphysischen Prinzips bei Thomas. Das oberste praktische Prinzip sagt nicht nur, dass alles Handeln Handeln fỹr ein Gut ist, sondern auch, dass es unmửglich ist, etwas gleichzeitig in derselben Hinsicht zu erstreben und nicht zu erstreben; auch das ist praktisch unlogisch. Sein Aufweis erfolgt durch die Einsicht, dass das Gute nicht anzustreben unmửglich ist, will man überhaupt menschlich handeln.444 Treffend wird von Flannery445 darauf hingewiesen, dass das oberste praktische Prinzip die Logik des Praktischen begründet: Es ist praktisch unlogisch, etwas zu erstreben, das man nicht als Gut ansieht. Die Evidenz ergibt sich nicht daraus, dass man das Gegenteil des obersten praktischen Prinzips nicht annehmen kửnnte, sondern daraus, dass man nicht anders handeln kann als in Bestọtigung des Prinzips. Die Nichtanerkennung des Prinzips ist gleichzusetzen mit Lọhmung – jede Handlung bestọtigt es
442 Für die Begrifflichkeit des per se notum bei Thomas insgesamt (unter besonderer Rücksichtnahme auf die Anwendung auf das menschliche Wissen von Gott) hat bereits Tuninetti 1996 darauf hingewiesen, dass die gelọufigen (kantischen) Unterscheidungen zwischen Notwendig-analytischem einerseits und Kontingent- empirischem andererseits mit der thomanischen Konzeption wenig zu tun hat, siehe S. 183 f.; die durch das per se notum bezeichnete logische Unmittelbarkeit des Erkenntniszugangs ist keine psychologische. Siehe auch Tuninetti 1996 S. 179.
443 Dass ein elenchischer Aufweis in Anlehnung an aristotelische ĩberlegungen zum Nichtwiderspruchsprinzip dennoch mửglich ist, zeigt Flannery 2001, S. 144-166. Diese Art des „Beweises“ dient der Erklọrung, warum und wie so etwas wie ein selbstverstọndliches Prinzip mửglich ist, sie erklọrt also eher den Status des Prinzips, als dass sie seinen Inhalt „beweist“.
444 Schrửer 1995, S. 207 ff. fỹhrt aus, dass die ersten Prinzipien dem notwendig Gewollten entsprechen.
Allerdings wỹrden die ersten Prinzipien des Wollens nicht aus reiner praktischer Subjektivitọt konstruiert, sondern seien das Ergebnis einer Analyse, die ihren Ausgang von der konkreten Erfahrung des Wollens her genommen hat. Moralische Notwendigkeit einer Handlung begründe Thomas, indem er analytisch aufweise, dass das Gegenteil zu Wollen unmửglich ist und dieses notwendig Gewollte nur unter bestimmten Umstọnden verwirklicht werden kann. Voraussetzung der Argumentation sei deshalb, dass es ein letztes Ziel menschlichen Handelns gebe, das durch die Gewọhrung eines erfỹllten Lebens vernỹnftigerweise anzustreben sei.
445 Flannery 2001, S. 152: „...although the denial of FPPR [the first principle of practical reason] is certainly illogical, it is practically illogical. The problem is not in the first place that the denial of FPPR cannot be true (although it cannot be) but that one cannot do what it suggests one can do: i.e., pursue what one does not consider good. The demonstration of FPPR seeks therefore to show not that FPPR is true, but that without it, there would be no intelligible human action.“
implizit; ein Verstoò gegen das oberste praktische Prinzip ist daher unmửglich. Selbst Handlungsverweigerung ist im Lichte des Prinzips eine „Handlungsalternative“, denn das Nichthandeln ist dann selbst ein erwọhltes praktisches Gut (wenn auch vielleicht kein wahres Gut).
Dass Thomas hierbei implizit voraussetzt, dass Handeln für ein Ziel nicht nur in der Vorstellung des Handelnden sinnvoll sein kann, sondern jedes vernünftige Streben das Vorhandensein des umfassenden Guten voraussetzt, das es als Streben erst konstituiert und damit die Logik des Fỹr-ein-Gut-Handelns erst erửffnet, soll nicht bestritten werden.446 Die Existenz Gottes als des umfassenden Guts und damit eine Willensmetaphysik447 wird von der Argumentation vorausgesetzt. Doch die Behauptung der Nichtexistenz eines solchen Guts führt – in praktischer Perspektive – dazu, dass gar kein Streben stattfindet, die praktische Vernunft kein ihr angemessenes Objekt hat und jeder Akt nicht nur unvernünftig, sondern ỹberhaupt unmửglich wird. Họlt man also daran fest, dass verstehbare menschliche Handlungen mửglich sind (genaugenommen ist auch dieser Akt der Anerkennung als menschliche Handlung bereits Ausdruck des Prinzips), dass man in der Welt handelnd tọtig wird und selbst Widerspruch in Form von Untọtigkeit eine verstehbare Reaktion darstellt, dann ist das Prinzip wirksam und die Existenz des umfassenden Guten notwendig
„mitbehauptet“. Das oberste praktische Prinzip kann so mit Thomas als Aufweis dafür gelesen werden, dass die Annahme der Existenz eines umfassenden Guten selbst bei umfassender Lebensverweigerung noch eine vernunftgemọòe Annahme ist, die der endlichen Verfasstheit der praktischen Vernunft entspricht. Dabei liegt die Betonung aber auf der endlichen Verfasstheit der praktischen Vernunft, die dann als Verweis auf die Existenz eines hửchsten Guts gedeutet werden kann. Theoretischer Widerspruch ist natỹrlich mửglich, denn eine andere Deutung des genannten Befundes bleibt denkbar, praktischer Widerspruch jedoch ist unmửglich: Denn eine Handlung kann nicht gleichzeitig
446 Den Unterschied einer Konzeption, bei der das hửchste Gut des Willens nicht der Wille selbst ist, sondern auòerhalb des Willens liegt, betont Brock 1998, bes. S. 137-149, der zugleich herausstellt, dass die letztere (thomanische) Position die Existenz Gottes voraussetzt, S. 146: „The primary noble goods are God and beatitude, and these are precisely what constitutes the will’s primary natural objects of love, desire and joy.
That he can do this, of course, rests on his judging it possible to establish the existence of these objects in a strictly theoretical way, i. e. as matters of fact, not just as things that ‚must be’.“
447 Vgl. z.B. die zusammenfassende Darstellung bei Zimmermann (mit Nachweisen) 1974. Die Selbstbewegung des Willens hinsichtlich konkreter Akte zur Verwirklichung endlicher Ziele ist kraft der Uraktuierung des Willens auf das letzte Ziel mửglich: Im Hinblick auf einen bestimmten Akt, in welchem ein Mittel tatsọchlich gewollt wird, ist der Wille im Zustand der Mửglichkeit, auch wenn er bezỹglich des Wollens des Ziels bereits im Zustand der Wirklichkeit ist. Der Wille kann sich deshalb bezüglich der Wahl des konkreten Mittels (also einer konkreten Handlung) selbst aktuieren. Siehe auch Riesenhuber 1971, Riesenhuber 1974, Welp 1979, Oeing-Hanhoff 1956, Schlüter 1971, Brock 1998 (bes. S. 192 ff.).
einerseits eine spezifisch menschliche Handlung sein, also ein Geschehen, das der Akteur selbst frei bestimmt, und zugleich andererseits von einem umfassenden Guten unabhọngig sein. Theoretisch ist die Annahme einer solchen Unabhọngigkeit mửglich – dann zeichnet nichts das menschliche Handeln gegenỹber anderen actus und Naturvorgọngen aus, und die Existenz bestimmter endlicher Güter determiniert die Verwirklichung des menschlichen actus. Das ist widerspruchsfrei denkbar. Doch der praktische Akt einer solchen Annahme, also das Glauben oder Behaupten eines solchen Befundes selbst, kann nur eine spezifisch menschliche und als solche ausgezeichnete Handlung sein: Handelt es sich doch um die (freie) Wahl dieser bestimmten konzeptionellen Alternative (nọmlich, dass es keine freien Handlungen gebe und also auch die Annahme der Abhọngigkeit von einem umfassenden Guten überflüssig sei.). In diesem Sinne ist praktischer Widerspruch zum obersten praktischen Prinzip fỹr Thomas unmửglich.
Doch so wie der Aufweis des obersten praktischen Prinzips kein Beweis seines Inhalts, sondern nur eine Erklọrung dafỹr ist, dass ein Prinzip dieses Status’ existieren kann und was den Status der Selbstverstọndlichkeit ausmacht, so ist auch die Existenz eines hửchsten umfassenden Gutes hier nicht „bewiesen“, sondern als Zugrundeliegendes benannt. Wer die praktische Vernunft als endlich verfasste auf ihre Bedingungen befragt, setzt den Aufweis der Existenz dieses Zugrundeliegenden bereits voraus; ohne selbst praktische Fragestellung zu sein oder selbst für den Bereich des Praktischen als Prinzip wirksam zu werden, ist diese metaphysische Einsicht448 hier doch insofern vorausgesetzt, als sie den Gegenstandsbereich des Praktischen auf spezifische Weise vorzeichnet: Der menschliche Akteur ist sogar bzw.
gerade qua wollendes Subjekt jemand, der nicht aus reiner Spontaneitọt agiert, sondern immer auch reagiert449; die Kraft seiner praktischen Vernunft konstruiert das Gute nicht selbst, sondern bezieht sich auf es als etwas ihr prinzipiell Äuòerliches.450 Der vernỹnftig
448 Den Aufweis der Existenz Gottes hat Thomas bekanntlich bereits in STh I q. 2 a. 3 geführt; das Ergebnis ist bei der Behandlung der Prinzipien des Praktischen vorausgesetzt und muss nicht - und wird von ihm nicht – erneut bewiesen werden; vgl. hierzu Kluxen 19983, S. 129: „Die metaphysische Rückfrage auf den Grund, das Wesen des Willens und seiner Intentionalitọt zeigt als dessen erfỹllenden Gegenstand Gott. Man darf aber nicht etwa annehmen, hier werde von der Intentionalitọt her, etwa von einem ‚Realismus des Intentionalitọtsprinzips’ aus, nun das Erfỹllende oder gar seine Existenz erschlossen oder auch nur postuliert.
Gott ist in der voraufliegenden spekulativen Betrachtung schon aufgewiesen; hier kann er deshalb eingeführt werden, weil er bereits erkannt ist“.
449 Wenn der Wille sich selbst als ein Gut will, so geschieht dies kraft seiner ursprünglichen Ausrichtung auf das bonum universale, vgl. STh II-II q. 25 a. 2: „Quia enim voluntatis obiectum est bonum universale, quidquid sub ratione boni continetur potest cadere sub actu voluntatis; et quia ipsum velle est quoddam bonum, potest velle se velle: sicut etiam intellectus, cuius obiectum est verum, intellegit se intellegere, quia hoc enim est quoddam verum.“
450 Unter diesem Aspekt mỹssen Interpretationen fragwỹrdig erscheinen, die die Eigenstọndigkeit der menschlichen Vernunft bei Thomas mit der Autonomiekonzeption Kants parallelisieren. Vgl. statt vieler Münk
handelnde Mensch ist so auch als Vernünftiger konsequent als endlich zu denken, und das heiòt auch, in sein natỹrliches Dasein eingebunden, dem Natỹrlichen nicht entgegengesetzt.
Gegenstand praktischen Wissens ist nun gerade nicht die Erkenntnis des unabhọngigen Guten, das alles Streben als Streben konstituiert, sondern die Identifikation der Akte, die als der menschlichen Vernunft angemessene Akte das menschliche Gute verwirklichen.451 Das oberste praktische Prinzip ist deshalb – wird es als Imperativ formuliert – zugleich oberstes Moralprinzip, das gerade wegen der Verwiesenheit auf das absolute hửchste Gut, das in seiner Formulierung als praktisches Prinzip noch aufscheint, selbst „nur“ das der Endlichkeit entsprechende menschliche Gute in den Blick nimmt.
Dieses menschliche Gute ist selbst keine unabhọngige Grửòe – so die direkt aus dem obersten praktischen Prinzip hervorgehende moralische Einsicht. Die Moral hat es mit dem Guten unter den Bedingungen der Endlichkeit zu tun, mit dem also, was in der Macht des menschlichen Akteurs steht. Was das für den Menschen Gute sei, kann daher nur mit Blick auf die menschlichen Vermửgen entschieden werden, deren spezifisches Objekt das Gute ist.
Weder ergibt sich also, was das (menschliche) Gute sei, aus einer Erkenntnis des umfassenden Guts, noch kann die menschliche Vernunft ein System von dem Menschen eigentümlichen Zwecken konstruieren, das ohne Einbeziehung der natürlichen Voraussetzungen und Beschrọnkungen menschlichen Handelns, also insbesondere auch der affektiven Verfasstheit des Akteurs sowie dem Verhọltnis der Verwirklichung seines Gutsstrebens zu dem anderer Akteure, auskọme.452 Es gilt: Das fỹr den Menschen Gute, das nur im Verhọltnis zu den menschlichen Vermửgen als Gut gekennzeichnet werden kann, ist ein Gut unabhọngig davon, ob es aktuell erstrebt wird oder nicht. Nicht erst das Streben macht etwas zu einem Gut, dennoch kann Gut nur sein, was im Verhọltnis zu menschlichem
1985, der von einer „wechselseitigen Rekonstruierbarkeit thomasischer und kantischer Grundpositionen“
spricht, S. 117.
451 In theologischer Perspektive stellt sich natỹrlich die Frage, wie das hửchste Gut – selbst nicht wirkbar – durch einen menschlichen Akt anrührbar sein soll: Wenn das Glück für den Menschen notwendig ist, muss er es auch erreichen kửnnen, muss es „in seiner Macht stehen“ - dennoch ist das Glỹck nur mửglich, wenn es von Gott geschenkt wird. Eine schửne Auflửsung gibt Brock 1998, S. 149: Glỹck ist Freundschaft mit Gott. Die freie Entscheidung ermửglicht die Hinwendung zu Gott, der das Glỹck schenkt. Insofern man aber das, was man durch Freunde erreicht, in gewisser Weise selbst erreicht, kann man sagen, dass man durch freie Entscheidung das Glỹck erreicht; vgl. STh I-II q. 5 a. 5 ad 1; siehe auch Aristoteles NE III, 5, 1112b27: „’Mửglich’ ist das, was wir durch eigene Kraft vollbringen kửnnen, wobei Freundeshilfe in gewissem Sinne gleich eigener Tat ist, denn das die Freunde bewegende Prinzip sind wir.“
452 Treffend Kluxen 19983, S. 224: „Von Ziel und Gegenstand kann nur geredet werden, wenn das Seiende im Verhọltnis zum wirkenden Prinzip des Handelns gesetzt ist; .... Die ‚Maògeblichkeit’ des Gegenstandes, sein bestimmender Charakter für das auf ihn gerichtete Tun, ist keine Vorgegebenheit, die schon in einer Seiendheit, wie sie an ihm selbst ist und erfaòbar ist, anzusetzen wọre; sie ergibt sich erst in dem Verhọltnis zu den inneren Prinzipien des Handelns.“