ĩblicherweise wird die von Thomas eingefỹhrte Unterscheidung zwischen iustitia distributiva und iustitia commutativa verkürzt interpretiert als Aufteilung von Pflichten des Staates gegen den Bürger (distributiv) im Gegensatz zu Pflichten von Bürgern gegen Bürger (commutativ).673 Diese Interpretationslinie lọsst sich zurỹckfỹhren auf die berỹhmte Kommentierung von STh II-II q. 61 durch Cajetan im 16. Jahrhundert. Dieser reformulierte die thomanische Aufteilung, indem er statt der von Thomas vorgeschlagenen zwei Arten der Gerechtigkeit die Gesetzesgerechtigkeit als dritte Art klassifizierte.674 Er konnte dadurch alle logisch mửglichen Relationen einer eigenen Gerechtigkeitsart zuordnen, also das Verhọltnis der Teile zueinander der kommutativen Gerechtigkeit, das Verhọltnis der Teile zum Ganzen
670 Zentral hierzu STh II-II q. 58 a. 9 ad 3; vgl. auch STh II-II q. 59 a. 1, wo Thomas den Verstoò gegen die Gesetzesgerechtigkeit als dem Wesen nach besonderes Laster (Missachtung des bonum commune), der Intention nach aber als allgemeines Laster (der Mửglichkeit nach kửnnte jede der Tugenden verletzt worden sein) kennzeichnet; vgl. auch STh I-II q. 60 a. 3 ad 2.
671 STh II-II q. 61.
672 STh II-II q. 61 a. 1.
673 Siehe statt vieler Elders 2005, S. 246: „The first [ distributive justice] is the virtue persons in the government must possess, by which they give each member of the community proportionally what is due to him.
Commutative justice, on the other hand, regulates the relations between citizens as they exchange goods and services among themselves“ und Lippert 2000, S. 228: „Zwei Arten der Partikulargerechtigkeit sind zu unterscheiden: die Verteilungsgerechtigkeit (...), der typischerweise die Staat-Bürger-Bürger-Struktur zugrundeliegt, und die Ausgleichgerechtigkeit (...), die sich auf Vertragsverhọltnisse im Bỹrger-Bỹrger- Verhọltnis bezieht.“
674 Commentaria in Secundam Secundae Divi Thomae de Aquino (1518), in II-II q. 61 a. 1.
der Gesetzesgerechtigkeit und schlieòlich das Verhọltnis des Ganzen zu den Teilen der distributiven Gerechtigkeit.
Konsequenz dieser problematischen675 Gleichordnung von Gesetzesgerechtigkeit und den beiden Arten der Einzelgerechtigkeit (commutativa und distributiva) als drei gleichgestellten Arten von Gerechtigkeit676 war, dass in der Folge diese „symmetrische“ Interpretation weiter ausgedeutet wurde als Aufteilung nicht nur der mửglichen Relationen von Teil und Ganzem, sondern von Bürger und Staat. Der commutativa wurde hierbei die Regelung des Verhọltnisses Bỹrger - Bỹrger zugewiesen, der distributiva das Verhọltnis Staat - Bỹrger und der iustitia legalis das Verhọltnis Bỹrger - Staat677.
Begünstigt wurde diese Entwicklung wohl besonders durch eine Formulierung von Thomas in quaestio 61, die die Unterscheidung zwischen distributiva und commutativa einführt, und zwar bei der Beantwortung des vierten Einwandes: Er schreibt dort, dass Einzelgerechtigkeit und Gesetzesgerechtigkeit unterschiedliche Endpunkte haben, die sie unterschiedlich spezifizieren678. Zu beachten ist aber, dass der Einwand, den Thomas hiermit ausrọumt, die Zuordnung der distributiva zur Einzelgerechtigkeit bestreitet. Sein Beweisziel ist also nicht eine Klọrung des Verhọltnisses von Gesetzes- und Einzelgerechtigkeit, sondern er muss erklọren, warum die distributiva trotz ihres Gemeinwohlbezugs – den sie mit der Gesetzesgerechtigkeit teilt – dennoch der Einzelgerechtigkeit zugehửrt: Akt der Einzelgerechtigkeit ist die Bewegung auf einen Einzelnen hin, der Akt der Gesetzesgerechtigkeit richtet den Einzelnen auf das Gemeinwohl aus. Obwohl sie wie die Gesetzesgerechtigkeit eine Ordnung bezüglich des Gemeinwohls aufstellt, ist also auch die austeilende Gerechtigkeit wegen der unterschiedlichen Perspektive (auf den Einzelnen hin) Teil der Einzelgerechtigkeit.679 Die Klassifizierung der Gesetzesgerechtigkeit als gleichgeordneter Teil der Einzelgerechtigkeit lọsst sich hieraus also nicht ableiten. Vielmehr
675 Als fehlerhafte Interpretation, die den ursprünglichen thomanischen Gedanken abwandelt, wird diese Kommentierung auch von Finnis 1998, S. 217 (note a), Finnis 1980, S. 184ff., S. 196f. (note VII.6), Del Vecchio 1950, Dognin 1961, Dognin 1965 angesehen.
676 Ausführliche Nachweise bei Del Vecchio 1950, S. 38ff. (Fn 15), der auch auf eine teilweise vertretene Vierteilung der Gerechtigkeit hinweist.
677 Das Dreierschema vertritt zum Beispiel Kaufmann 1993, S. 30 f.; vgl. zur Rezeptionsgeschichte grundlegend Del Vecchio 1950, S. 36-42 (Fn 15), in neuerer Zeit Finnis 1980, S. 185 f. (mit Verweis auf Del Vecchio). Beide verbinden die Untersuchung mit der Frage, wie die sog. „soziale Gerechtigkeit“ in das thomanische Schema eingeordnet werden kann, hierzu unten unter 4.
678 STh II-II q. 61 a. 1 ad 4: „...motus accipiunt speciem a termino ad quem.“
679 STh II-II q. 61 a. 1 ad 4:. „Et ideo ad iustitiam legalem pertinet ordinare ea quae sunt privatarum personarum in bonum commune: sed ordinare e converso bonum commune ad personas particulares per distributionem est iustitiae particularis.“
ist wie alle sittliche Tugend auch die Einzelgerechtigkeit in ihren zwei Arten (distributiva und commutativa) in der Gesetzesgerechtigkeit enthalten. Mehr noch: Die beiden Arten der Einzelgerechtigkeit stellen den Gemeinwohlbezug nur mittelbar her, nọmlich ỹber den Umweg über den Einzelnen. Nur sofern das bonum singulare als das Wohl von jemandem, der notwendig Teil einer Gemeinschaft ist (commutativa) und dieser bedarf (distributiva), in seiner Beziehung zu anderen Einzelnen mit ihrem je eigenen bonum singulare und in den gemeinschaftlichen Tọtigkeiten sich als zusammenhọngend mit dem Begriff des bonum commmune erweist, also nicht unmittelbar, sondern mittelbar, erreichen die Arten der Einzelgerechtigkeit die Ausrichtung des Einzelnen auf das bonum commune. Bei den Arten, auch der distributiva, geht es zunọchst um das Wohl des Einzelnen, die Ordnung des bonum singulare. Die Gesetzesgerechtigkeit hingegen hat unmittelbar das bonum commune zum Gegenstand, da sie als allgemeine Tugend das thematisiert, was als tugendhaftes Handeln fỹr alle Akteure gleichermaòen ihr je eigenes Wohl fửrdert. Die beiden Arten der Einzelgerechtigkeit zeigen nur einen Ausschnitt hieraus, den nọmlich, der die soziale Dimension des Akteurseins zum Inhalt hat.
Doch auch commutativa und distributiva werden durch die im Dreierschema vorgeschlagene Charakterisierung nicht korrekt beschrieben. Zu Recht wurde darauf hingewiesen680, dass die Einteilung Bürger - Bürger (commutativa) und Staat - Bürger (distributiva) eine zu starke Vereinfachung darstellt. Denn einerseits kann die iustitia distributiva auch zwischen Bürgern Anwendung finden, zum Beispiel im Verhọltnis des Familienoberhauptes zu den Familienmitgliedern681, und andererseits ist nicht jede Beziehung des Staates zu seinen Bürgern Gegenstand der Verteilungsgerechtigkeit. Für Letzteres lassen sich mehrere Beispiele anführen. So tritt der Staat seinen Bürgern als Gleicher entgegen, wenn er z.B.
seine Bediensteten entlohnt oder Eigentum erwirbt – bei solchen Tauschverhọltnissen zwischen Staat und Bỹrger ist die iustitia commutativa einschlọgig.682 Auch das Lehrstỹck vom contrapassum683, der Wiedervergeltung, zeigt, dass die Gleichsetzung „Bürger-Staat“
680 Finnis 1998, S. 217.
681 STh II-II q. 61 a. 1 ad 3: „Quamvis etiam distributio quandoque fiat bonorum communium non quidem civitati, sed uni familiae: quorum distributio fieri potest auctoritate alicuius privatae personae.“
682 STh II-II q. 61 a. 4 ad 2: „...si alicui qui communitati servisset retribueretur aliquid pro servitio impenso, non esset hoc distributivae iustitiae, sed commutativae.“
683 Obwohl es sich hierbei um ein für seine angebliche Unklarheit berüchtigtes Lehrstück handelt, vgl. etwa Porter 2002, S. 278: „Aquinas’s mathematical images for the different senses of equality proper to justice, which he takes from Aristotle, are notoriously unclear, as is the idea of contrapassum.“, kann mit Hilfe der nun im Folgenden vorgeschlagenen Interpretation die Wiedervergeltung als staatliche Strafe kohọrent begrỹndet werden.
mit „distributiv“ sowie „Bürger-Bürger“ mit „kommutativ“ zu kurz greift.684 Denn hier wird die Notwendigkeit staatlicher Reaktion auf Verletzung der interpersonalen Gleichheitsverhọltnisse beschrieben. Das contrapassum wird hierbei als Ausgleich der Stửrung zwischen Einzelnen durch eine Statuseinbuòe des Tọters685 im Vergleich zum eigentlichen Akt der iustitia commutativa, der restitutio686 oder Wiedererstattung, die das Recht des Geschọdigten durch Schadensausgleich wiederherstellt, zunọchst herausgehoben, da Thomas sich fragt, ob es überhaupt einer der beiden Gerechtigkeitsarten zuzuordnen oder nicht vielmehr fỹr beide gỹltig ist. Obwohl Thomas meint, dass die Schọdigung eines anderen auch eine Schọdigung des Staates beinhalte, weil die Sicherheit seines Schutzes bedroht werde,687 sieht er das contrapassum dennoch ausdrücklich nicht als Akt staatlichen Austeilens, der der distributiva zuzuordnen wọre. Die Wiedervergeltung bestraft vielmehr den, der das Gleichheitsverhọltnis der iustitia commutativa gestửrt hat und erfolgt daher zwar durch den Staat, aber ebenfalls nach den Grundsọtzen der commutativa.
Da die beschriebene Interpretation von distributiva und commutativa die genannten Beispiele nicht erklọren kann, soll hier versucht werden, durch eine andere Bestimmung sowohl von iustitia distributiva als auch von iustitia commutativa die verschiedenen Aussagen Thomas’ in Einklang zu bringen.
1. Die austeilende Gerechtigkeit
Die Erklọrung, was austeilende Gerechtigkeit sei, fọllt bei Thomas in STh II-II q. 61 a. 1 und a.
2 denkbar knapp aus, a. 3 und 4 charakterisieren nur noch die ausgleichende Gerechtigkeit.
Nọhere Bestimmungen ergeben sich daher erst aus den Ausfỹhrungen zur ausgleichenden Gerechtigkeit, insbesondere bei der Abgrenzung oder Kontrastierung zur austeilenden Gerechtigkeit. Erst nach der Behandlung der iustitia commutativa wird eine vollstọndige Bestimmung auch der iustitia distributiva mửglich sein.
684 STh II-II q. 61 a. 4.
685 Dass Thomas hier eine Einbuòe des Rechtsstatus des Tọters im Auge hat, wird daran deutlich, dass er betont, die Schwere der Wiedervergeltung müsse der Schwere der Rechtsverletzung durch die unrechte Handlung entsprechen, nicht der Schwere etwa der Schmerzen, die der Geschlagene erlitten hat. Ungenau deshalb Porter 2002, S. 278, die nicht die unrechte Handlung, sondern das erlittene Unrecht ausgeglichen sehen will: „...Contrapassum...is...a state of affairs in wich the suffering or loss of one is balanced by the suffering or loss of another.“ Thomas hingegen, STh II-II q. 61 a. 4, gleicht die Wiedervergeltung an die auslửsende unrechte Tat an: „...debet fieri ...recompensatio secundum aequalitatem: ut scilicet passio recompensata sit aequalis actioni.“
686 STh II-II q. 62, bes. a. 1.
687 STh II-II q. 61 a. 4: „...non solum damnificavit personam privatam, sed rempublicam, eius tutelae securitatem infrigendo.“
Bei der austeilenden Gerechtigkeit ist der Einzelne nicht als Einzelner, sondern als Teil des Gemeinwesens Endpunkt des Gerechtigkeitsaktes: „Der Ordnung des Ganzen zu den Teilen entspricht die Ordnung dessen, was gemeinsam ist, zu den einzelnen Personen.“688
Auffọllig ist zunọchst, dass Thomas nicht – wie spọter seine Kommentatoren – vom Verhọltnis Staat - Bỹrger spricht, sondern ỹber die Verteilung gemeinsamer Gỹter an die Einzelnen, insofern sie Teil eines Gemeinwesens sind. Subjekt der iustitia distributiva ist also nicht – wie họufig angenommen – der Staat, sondern jeder, dem die Verteilung gemeinsamer Güter obliegt689, also zum Beispiel auch das Familienoberhaupt690. Ihre Kriterien kửnnen folglich nicht nur im Bereich des „ửffentlichen Rechts“ angewendet werden, sondern greifen auch unter Privaten, nọmlich ỹberall dort, wo es – etwa durch Arbeitsteilung – zur Erwirtschaftung gemeinsamer Güter kommt.
Auòerdem ordnet die iustitia distributiva nicht – wie ebenfalls oft angenommen691 – das Verhọltnis des Ganzen zum Teil, sondern es geht ihr gerade um die Teile, allerdings insofern diese Teil eines Gemeinwesens sind692. Ihr Thema ist also die Verteilung gemeinsamer Güter (Plural) an die Einzelnen, nicht die Ordnung des Einzelnen zum bonum commune (Singular);
letztere Beziehung charakterisiert die Gesetzesgerechtigkeit.693 Dies erklọrt, weshalb die iustitia distributiva als Spezies der Einzelgerechtigkeit zu klassifizieren ist – sie hat es mit dem Handeln des Einzelnen in einem gemeinsamen Handlungsraum zu tun und lọsst ihm das Seine zuteil werden. Was sie dabei spezifiziert, also von der anderen Art der Einzelgerechtigkeit, der commutativa, unterscheidet, ist das, was dem Einzelnen als „das Seine“ zugewiesen wird: Die distributiva verteilt gemeinsame Güter, die commutativa schützt das eigene Gut des Einzelnen. Dennoch hat auch die distributiva es mit dem bonum singulare zu tun, denn Pointe der Ausführungen zur distributiva ist ja gerade, dass und
688 STh II-II q. 61 a. 1: „huic ordini [totius ad partes] assimilatur ordo eius quod est commune ad singulas personas.“
689 Siehe hierzu Dognin 1965, S. 406, 416; Dognin 1961, S. 624 ff., S. 638ff.
690 Ausdrücklich STh II-II q. 61 a. 1 ad 3: „Quamvis etiam distributio quandoque fiat bonorum communium non quidem civitati, sed uni familiae: quorum distributio fieri potest auctoritate alicuius privatae personae.“
691 Aus dieser Interpretation kann dann die Folgerung gezogen werden, dass die Gesetzesgerechtigkeit erst durch ihre Ordnung des Einzelnen zum Ganzen die Gemeingüter schafft, die hernach die distributiva wieder vom Ganzen an die Einzelnen verteilt, Nachweise bei Dognin (1965), S. 408 , sowie (1961).
692 Vgl. Dognin 1965, S. 403: „....le totum est rien d’autre que ces personnes elles-mêmes, en tant qu’incluses dans un certain ordre, dans un certain rapport...“.
693 Vgl. Dognin 1965, S. 407: „La justice légale, en effet, n’a pas directement affaire aux „biens communs“, mais au „bien commun“.
inwiefern die gemeinsamen Güter den Einzelnen zustehen.694 Dieses Geschuldetsein der gemeinsamen Güter ist nun genauso debitum legale wie bei der iustitia commutativa695, beide begründen als Arten der Einzelgerechtigkeit Verpflichtungen, denen ein Anspruch Berechtigter entspricht.696 Die Bestimmung des Geschuldeten jedoch erfolgt anders, je nachdem, ob es mehreren oder nur einem geschuldet ist: Der gerechte Ausgleich, der von der Gerechtigkeit hergestellt wird, indem sie jedem das seine gibt, kann zwei verschiedene Gestalten haben, nọmlich den der arithmetischen Gleichheit (commutativa) oder den der geometrischen Proportion (distributiva).697 Maò der austeilenden Gerechtigkeit ist also nicht ein Gleichheitsverhọltnis, wie es der Tauschgerechtigkeit zugrunde liegt (hierzu unten unter 2.), sondern ein Verhọltnis unter Nicht-Gleichen, bei dem der gerechte Ausgleich nach dem Status der jeweiligen Personen im Gemeinwesen bestimmt wird698. Der gerechte Ausgleich besteht deshalb bei der austeilenden Gerechtigkeit in einer Proportion von Person und Sache, nicht in einem arithmetisch bestimmbaren Verhọltnis von Sachen.699 Die geometrische Proportion hilft, Aussagen über Zahlen zu machen, indem man ihre mathematische Funktion im Verhọltnis zu anderen Zahlen bestimmt, auch wenn man – wie etwa bei irrationalen Zahlen – unmittelbar die Zahl nicht verstehen kann.700 Gibt man eine Proportion an, wie zum Beispiel „wenn a:b = c:d, dann ma: nb=mc:nd”, so erklọrt man damit, wie die Zahlen a, b, c und d sich untereinander verhalten, ohne a, b, c oder d zu kennen. Die Ordnung, die man zwischen diesen Zahlen herstellt, liegt nicht in ihnen selbst, wie das beim
694 STh II-II q. 61 a. 1 ad 2: „...cum ex bonis communibus aliquid in singulos distribuitur, quilibet aliquo modo recipit quod suum est.“
695 Nachweise zur Gegenansicht bei Dognin 1965, S, 411.
696 Schwer verstọndlich insofern STh II-II q. 61 a. 1 ad 5: „...iustitia distributiva et commutativa non solum distinguuntur secundum unum et multa, sed secundum diversam rationem debiti: alio enim modo debetur alicui id quod est commune, alio modo id quod est proprium.“ Vgl. zu der hieraus resultierenden Auseinandersetzung darüber, ob das debitum der distributiva in demselben strengen – rechtlichen - Sinne geschuldet ist, wie das der commutativa Dognin 1965, S. 410 f. (im Ergebnis dafür): „Quand donc Thomas parle de diversa debiti ratio, ou d’un „mode“ distinct que revêt la dette dans l’une et l’autre justice, il ne fait nullement porter cette diversa ratio ou cet alius modus sur la dette elle-même, mais sur l’égalité qu’il faut réaliser pour l’éteindre.“
697 STh II-II q. 61 a. 2.
698 STh II-II q. 61 a. 2 ad 3: „Et ita conditio personae in distributiva iustitia attenditur secundum se: in commutativa autem secundum quod per hoc diversificatur res.“; STh II-II q. 61 a. 4 ad 2: „In distributiva enim iustitia non attenditur aequalitas eius quod quis accipit ad id quod ipse impendit, sed ad id quod alius accipit, secundum modum utriusque personae.“
699 STh II-II q. 61 a. 2.
700 Vgl. zu „ordnen“, „zọhlen“ und Hierarchien Flannery 2001, S. 84-108, zur geometrischen Proportion insb.
98f.
Mehr oder Weniger des arithmetischen Verhọltnisses der Fall ist, sondern es handelt sich um Funktionen einer Metaordnung. Die hier angewendeten Ordnungsprinzipien sind unabhọngig von den verwendeten Zahlen. Ebenso ist die Funktion einer Person fỹr das Gemeinwesen nicht dadurch bestimmt, was für ein Mensch jemand ist. Die Vorrangstellung einer Person bestimmt sich vielmehr abhọngig davon, wie ein Gemeinwesen organisiert ist:
In der Aristokratie nach der Tugend der Einzelnen, in der Oligarchie nach dem Reichtum und in der Demokratie nach der Freiheit.701 Das Gemeinwesen als Ganzes zu verstehen, das sich zu den Einzelnen wie zu seinen Teilen verhọlt, heiòt also, seine Ordnungsprinzipien als Hierarchiestrukturen zu thematisieren, ohne damit die „Teile” als Menschen zu charakterisieren. Die Hierarchie ist keine Hierarchie unter Menschen (die als Menschen Gleiche sind), sondern unter durch ihre Funktion bestimmten Personen.
Folgerichtig ist auch der einzige von Thomas genannte Verstoò gegen Gerechtigkeit in Form von distributiver Gerechtigkeit die falsche Rücksicht auf Personen.702 Er meint hiermit nicht das, was allen gleich geschuldet wird, denn die Personenwürde unterscheidet zwischen den Einzelnen nach ihrer Funktion im Gemeinwesen und fordert deshalb auch unterschiedliche Behandlung. Nur im Akteursein selbst liegt eine Respekt fordernde Eigenwürde, die allen Menschen gleich zukommt. Insofern das einer Person Geschuldete sich nicht immer nach Gleichheitsprinzipien im Verhọltnis von Leistung und Gegenleistung bestimmen lọsst, ist die austeilende Gerechtigkeit betroffen. Sie bestimmt den gerechten Ausgleich unter einer besonderen Hinsicht, nach der die Stellung eines Menschen im Gemeinwesen beurteilt wird.
Nicht der Mensch als Mensch, sondern die innerhalb eines Gemeinwesens eine bestimmte Stellung innehabende Person ist Trọger der Personenwỹrde.703 Falsche Rỹcksicht auf Personen als Verstoò gegen die austeilende Gerechtigkeit ist folglich nicht ein Verstoò gegen allgemeine Gleichheitsprinzipien, sondern ein Fehler bei der Bestimmung der Hinsicht, unter der der Status einer Person im Gemeinwesen zu bestimmen ist.
Die iustitia distributiva hat also als Teil der Einzelgerechtigkeit ihren ganz eigenen Bereich:
Sie regelt das, was – abstrakt – Angelegenheit der Gemeinschaft als Kollektiv ist, stellt aber zugleich klar, dass eben keine eigene moralische Person „der Staat“ oder „das Kollektiv“ als
701 STh II-II q. 61 a. 2: „Et ideo in distributiva iustitia tanto plus alicui de bonis communibus datur quanto illa persona maiorem principalitatem habet in communitate. Quae quidem principalitas in aristocratica communitate attenditur secundum virtutem, in oligarchica secundum divitias, in democratica secundum libertatem, et in aliis aliter. Et ideo in iustitia distributiva non accipitur medium secundum aequalitatem rei ad rem, sed secundum proportionem rerum ad personas“.
702 STh I-II q. 63.
703 Dementsprechend darf ein Richter keine Rücksicht auf die Personenwürde nehmen, denn er entscheidet ỹber Gleiche im Verhọltnis der iustitia commutativa, siehe STh II-II q. 63 a. 4.
Akteur Inhaber der Gemeinschaftsgüter ist, sondern diese immer schon den Einzelnen als Teilen des Ordnungsgefüges zustehen.704 Hier geht es folglich nicht unmittelbar um die Integration der Einzelnen (das wọre Aufgabe der das bonum commune bzw. bonum humanum artikulierenden Gesetzesgerechtigkeit insgesamt), sondern um die genuinen Gemeinschaftsgỹter. Die Sozialitọt wird in der iustitia distributiva als eine eigene Dimension des einzelnen Menschen anerkannt, der eben nicht nur animal rationale, sondern als solches auch animal sociale ist, dem also mit anderen gemeinsam etwas zustehen kann und der mit anderen gemeinsam Güter schafft und schaffen muss.705 Das Ganze wird nicht als eigene handelnde Grửòe, als dem Einzelnen gegenỹbertretender Staat thematisiert, sondern gerade in seiner Beziehung zu den Teilen. Wọhrend die commutativa die Eigenstọndigkeit der Akteure im geteilten Handlungsraum sichert, stellt die distributiva Prinzipien des Gemeinsamen, der Kooperation an die Hand. Die Gemeinschaft wird hier selbst zum Gut, das dem Gemeinschaftsleben als solchem Nützliche wird hier zum Prinzip gemacht. Indem sie die Organisationsstrukturen und deren notwendige Abstỹtzung durch die Fửrderung von Personen, die innerhalb dieser Strukturen Funktionen haben, als Ganzes in seiner Beziehung zu den einzelnen Teilen darstellt, bindet die iustitia distributiva den Gedanken des Kollektivnutzens an das Wohl jedes Einzelnen. Denn „das, was dem Ganzen gehửrt, ist auch dem Teil geschuldet“.706 Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass das bonum commune im Sinne des für jeden Menschen als Menschen Guten nur dann seine Integrationsfunktion erfüllen kann, wenn eine Gemeinschaft konkrete Organisationsstrukturen besitzt und diese hinreichend abstỹtzt. Die Mửglichkeiten des bonum commune-Begriffs, der das Gutsstreben jedes Einzelnen ermửglicht, entfaltet sich erst innerhalb konkret organisierter Gemeinschaftsformen, die deshalb auch selbst als Gut erstrebenswert sind und gefửrdert werden müssen. Eine legitimatorische Rückbindung an den Einzelnen, der in eine konkrete Gemeinschaft hinein handelt, die er mit ihrer Organisationsform vorfindet und damit einer
704 Vgl. Dognin 1965, S. 414.
705 Vgl. hierzu Dognin 1965, S. 404f., der auf den besonderen - gemeinschaftlichen - Charakter des von der distributiva zugewiesenen gerechten „suum“ hinweist: „Il y a donc ... un suum qui est partie intégrante d’un nostrum, c’est-à-dire d’un droit commun originaire ... ce nostrum primitif, d’une part, n’est pas contradictoire avec un droit personnel, un suum de chacun des membres de la communauté; mais ce suum primitif, partie intégrante d’un nostrum également primitif, ne pourra, d’autre part, se transformer correctement en proprium que selon les normes de la justice distributive.“ Dognin wendet sich hiermit gegen Versuche, das totum als hypostasierte eigene Grửòe zu verstehen, was in der Rezeptionsgeschichte zur Folge hatte, dass der Staat nicht nur als (einziger) Trọger der distributiva, sondern auch als originọrer Eigentỹmer der Gemeinschaftsgỹter angesehen wurde.
Man beachte auch die auffallende Parallele bei der Eigentumslehre, STh II-II q. 66 a. 1.
706 STh II-II q. 61 a. 2: „...id quod est totius est debitum parti“; siehe auch STh II-II q. 61 a. 1 ad 2: „...pars et totum quodammodo sunt idem, ita id quod est totius quodammodo est partis.“