Stellung der Gerechtigkeit im Kontext der anderen Tugenden

Một phần của tài liệu Die per se schlechte handlung in der summa theologiae des thomas von aquin (Trang 240 - 244)

Thomas weist der Gerechtigkeit eine Sonderstellung unter den Tugenden zu. Worin diese begründet liegt, kann nach dem Gesagten durch eine Einordnung in die Gesamtsystematik seiner Moralphilosophie genauer benannt werden:

Obwohl jede der Tugenden gemọò ihrer spezifischen Akte charakterisiert wird, also auch besondere ọuòere Handlungen hervorbringt, lassen sich diese ọuòeren Handlungen eben wegen ihrer Äuòerlichkeit der Gesetzesgerechtigkeit zuordnen. Die Bedeutung eines Verhaltens, sein objektiver Gehalt, der in der ọuòeren Handlung in die Welt tritt, wird insofern von der Gesetzesgerechtigkeit bestimmt. Die moralische Spezifikation einer Handlung ist ỹber das Handlungsobjekt von dieser objektiven Bedeutung abhọngig. Der Gesetzesgerechtigkeit kommt hierbei die Aufgabe zu, den objektiven Gehalt eines Verhaltens gerade wegen seines Bezugs zu anderen und zum bonum commune784 als durch die moralische Verpflichtung geprọgt zu beschreiben. Die Bezeichnung der Gesetzesgerechtigkeit als allgemeine Tugend785 ist folglich das Korrelat zu der

783 Zu undifferenziert deshalb Schockenhoff 1987, 139 f., der zwar zutreffend darauf hinweist, dass schon mit der Hinneigung des Willens zum Guten als einem von ihm Unterschiedenen, Anderen, die Vollkommenheit des Einzelnen in fundamentalem Zusammenhang mit der Vollkommenheit der anderen steht, mit denen er in einer gemeinsamen Welt das Gute handelnd verwirklichen muss, aber dann auf die Rolle der Gerechtigkeit nicht nọher eingeht.

784 STh II-II q. 58 a. 5: „...bonum cuiuslibet virtutis, sive ordinantis aliquem hominem ad seipsum sive ordinantis ipsum ad aliquas alias personas singulares, est referibile ad bonum commune, ad quod ordinat iustitia. Et secundum hoc actus omnium virtutum possunt ad iustitiam pertinere, secundum quod ordinat hominem ad bonum commune.“

785 STh II-II q. 58 a. 5: „...iustitia dicitur virtus generalis.“

handlungstheoretischen Vorgabe, dass jede Einzelhandlung eine debita plenitudo, also eine moralische Spezifikation und eine ihr eigene Rechtheit besitzt. Die moralische Spezifikation der Einzelhandlung ist nọmlich insofern objektiv bestimmt, als sie ins Feld der Gesetzesgerechtigkeit fọllt und umgekehrt. Das objektive Sollen, das Geschuldetsein allen objektiven moralischen Anspruchs, gehửrt zur besonderen Struktur der Gerechtigkeit, und zwar sowohl der Gesetzes- als auch der Einzelgerechtigkeit.786 Hier muss aber noch weiter differenziert werden: Denn die Form des Geschuldetseins ist bei der Einzelgerechtigkeit eine strengere als bei der Gesetzesgerechtigkeit. Die Gesetzesgerechtigkeit, von Thomas auch allgemeine Tugend genannt, ist eine Verpflichtung des Akteurs sich selbst787 bzw. – in theologischer Ausdeutung der sittlichen Verpflichtung – Gott gegenüber788. Ein anderer Akteur kann nicht als Berechtigter die Einhaltung einer solchen Pflicht verlangen. Die Verpflichtung kann sich zwar zu Gunsten eines anderen Akteurs auswirken, wie dies bei der Liebe und bei einigen Annextugenden der Gerechtigkeit wie zum Beispiel der Freigiebigkeit der Fall ist. Selbstverpflichtung schlieòt hier also das ad alterum nicht aus. Thomas nennt diese Struktur des Geschuldetseins das debitum morale. Doch nur bei den Verpflichtungen der Einzelgerechtigkeit entspricht der Verpflichtung des Akteurs eine Berechtigung eines anderen Akteurs. Dieses Verpflichtetsein einem anderen Akteur gegenüber bei der Einzelgerechtigkeit ist das debitum legale. Beide Formen der Pflicht sind Ausdruck der allgemeinen Tugend, der Gesetzesgerechtigkeit, und also auch Teil des natürlichen Gesetzes.789 Laut natürlichem Gesetz hat die gesamte Moral das Gut des Akteurs zum Gegenstand. Die Verpflichtungskraft der Gesetzesgerechtigkeit und damit aller Tugend ist also wie beim natürlichen Gesetz letztlich Folge davon, dass das Wohl des Akteurs betroffen ist: Seine Handlungsmacht in der Welt wird gewahrt und gefửrdert.

786 Vgl. Pieper 1953, S. 37: „Gerecht sein heiòt: etwas schulden und die Schuldigkeit leisten.“, S. 38: „Hier tritt zutage, dass der ethische Grundbegriff des Sollens, des debitum, im Felde der Gerechtigkeit seinen Ursprung hat.“ Allerdings greift Pieper vorrangig den theologischen Begründungsstrang heraus, wenn er den personalen Charakter aller sittlichen Verpflichtung als Verpflichtung Gott gegenüber als Grund für die Sonderstellung der Gerechtigkeit anführt (S. 40)ff., auf die Verpflichtung wegen der Hinordnung auf das bonum commune aber kaum eingeht.

787 Siehe nochmals STh II-II q. 58 a. 5 (wie Fn 784).

788 STh II-II q. 79 a. 1: „Ad iustitiam vero generalem pertinet facere bonum debitum in ordine ad communitatem vel ad Deum, et vitare malum oppositum.“

789 Vgl. STh II-II q. 122 a. 1: „...praecepta decalogi sunt prima praecepta legis, et quibus statim ratio naturalis assentit sicut manifestissimis principiis. Manifestissime autem ratio debiti, quae requiritur ad praeceptum, apparet in iustitia, quae est ad alterum“, siehe auch ad 1: „...lex intendit omnes homines facere virtuosos, sed ordine quodam: ut scilicet prius tradat eis praecepta de his in quibus est manifestior ratio debiti“.

Bei Maòhaltung und Tapferkeit geht es dabei insbesondere um die Umsetzung von Handlungen, also ihren Strebensanteil, aber auch um die Willensbildung: Die Leidenschaften der Seele werden so geordnet, dass das rationale Strebevermửgen nicht durch irrationale Strebungen aus dem Gleichgewicht gebracht wird, durch das rechte Maò erhalten die irrationalen Strebekrọfte Anteil am vernỹnftigen Streben nach dem Guten. Es geht also nicht nur um Stửrungsfreiheit, sondern die irrationalen Strebekrọfte sind aus eigenem Recht am Streben nach dem Guten beteiligt. Sie bewirken eine Handlungsneigung, durch die die Umsetzung eines Entschlusses in tatsọchliches Handeln erfolgt.

Die Klugheit hingegen bewirkt das rechte Schlieòen der praktischen Vernunft. Sie regelt also unmittelbar nicht das Strebevermửgen, sondern die Vernunft selbst, sofern diese praktisch ist, d.h. sich mit dem Streben nach dem Guten befasst. Deshalb kann Thomas sagen, dass das Verhọltnis der Klugheit zu den sittlichen Tugenden parallel ist zu dem Verhọltnis von Vernunft und Wille.790 Denn die sittlichen Tugenden bewirken die Neigung zum guten Ziel, nur durch die Klugheit aber wird als Ziel ein gutes Ziel erwọhlt.

Im Verhọltnis zur Klugheit lọsst sich ỹber die Gesetzesgerechtigkeit deshalb sagen: Das Gesetz verhọlt sich zu der gerechten Handlung wie der Entwurf des Kỹnstlers zum Kunstwerk.791 Die geistige Haltung jedoch, die das einzelne Handlungsurteil gesetzmọòig vollziehen lọsst, ist die Klugheit. Gesetzmọòiges Handeln ist aber recht handeln. Die Haltung, die zum recht Handeln geneigt macht, ist die Gerechtigkeit. Eine kluge Handlung ist daher eine gerechte Handlung und umgekehrt. ĩber die Klugheit werden die von den anderen Tugenden zu ordnenden appetitiven Strebungen so rational geordnet, dass das Handlungsurteil vernunftgemọò vollzogen werden kann. Dieses Urteil beinhaltet neben der objektiven Komponente auch subjektive Elemente von moralischer Relevanz, nọmlich ỹber den finis operantis, die Zielsetzung des Handelnden, auch seine Motive und Antriebe. Die objektive moralische Seite jedoch, also die Bedeutung der Handlung als Geschehen in der ọuòeren Welt, kann auch als ihre Rechtheit bezeichnet werden. Moralisch Handeln ist deshalb immer auch recht Handeln, diese objektive Komponente des debitum der Einzelhandlung fọllt in den Bereich der Gesetzesgerechtigkeit. Das Produkt der moralisch auch relevanten Antriebe und Zielsetzungen ist ein Objektives, die Einzelhandlung, die gerecht im Sinne der Gesetzesgerechtigkeit sein muss. Klugheit und Gerechtigkeit wirken also bei der moralisch guten Handlung zusammen, lassen sich aber dennoch unterscheiden:

790 STh I-II q. 65 a. 1 ad 3: „... [virtutes] morales dependent a prudentia, eo quod appetitus movet quodammodo rationem, et ratio appetitum“.

791 STh II-II q. 57 a. 1 ad 2.

Wọhrend im konkreten Handlungsurteil der Klugheit neben der fỹr-alle-gỹltigen Rechtheit der Handlung auch subjektive Momente Berücksichtigung finden, die für die Handlungsmacht des Akteurs relevant sind, vermittelt die Gerechtigkeit gerade das Geschuldetsein, den Pflichtcharakter der Handlung. Daher ist spezifisches Feld der Einzelgerechtigkeit das dem anderen streng geschuldete, debitum legale, ein Spezialfall des Verpflichtetseins. Die allgemeine Form der Pflicht wird ausgedrückt von der Gesetzesgerechtigkeit, dem debitum morale.

In diesem Verhọltnis zu den anderen Tugenden ist die Gesetzesgerechtigkeit schon aufgrund ihres Gegenstandsbereichs, des bonum commune, den anderen moralischen Tugenden übergeordnet, die immer nur auf ein bonum singulare ausrichten.

Aber auch der Einzelgerechtigkeit kommt eine hervorragende Stellung zu: Sie wirkt direkt auf das rationale Strebevermửgen, den Willen, wọhrend die anderen Tugenden die irrationalen Strebungen ordnen. Auòerdem ist Gegenstand der Einzelgerechtigkeit nicht nur das Einzelgut des Akteurs, sondern das Gut des anderen,792 auch sie führt also zu einer Erweiterung der Perspektive.

Eine besondere Stellung der Einzelgerechtigkeit ergibt sich auòerdem daraus, dass sie nur ọuòere Handlungen zum Gegenstand hat. Denn hierdurch kann die Einzelgerechtigkeit – anders als die anderen sittlichen Tugenden – ọuòere Handlungen nicht in ihrer Angemessenheit in Bezug auf den Akteur selbst, sondern in der ihnen in sich selbst793, unabhọngig vom Akteur, zukommenden Bedeutung betrachten. Durch den mửglichen Bezug auf andere Akteure und deren hieraus resultierende Berechtigung gegen den Akteur ist das Geschuldetsein einer im Sinne der Einzelgerechtigkeit gerechten Handlung deshalb im Vergleich zu der von den anderen Tugenden ausgedrỹckten Verpflichtung stọrker. Die Einzelgerechtigkeit ermửglicht, Verhaltensweisen zu identifizieren, die in sich betrachtet ein debitum besitzen, also den Charakter des Guten oder Bửsen haben. Dies ist also der Grund dafỹr, dass Beispiele fỹr per se schlechte Handlungen auòerhalb des „allgemeinen Teils“ der Moralphilosophie ausschlieòlich im Gerechtigkeitstraktat zu finden sind und bei keiner anderen Einzeltugend Verhaltensweisen identifiziert werden, die immer verboten oder bửse sind.

792 STh II-II q. 58 a. 12.

793 STh I-II q. 60 a. 3: „...in operationibus exterioribus ordo rationis instituitur, sicut dictum est (a. 2), non secundum proportionem ad affectionem hominis, sed secundum ipsam convenientiam rei in seipsa.“

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